Mindfuck-Level: Fortgeschrittener
Im Mindfuck-Film waren Multiversen und parallele Realitäten schon ein gängiges Thema, bevor sie durch das Marvel-Filmuniversum im Mainstream ankamen. Das bedeutet aber keinesfalls, dass dieser Topos dadurch aus dem Mindfuck verschwunden ist. Auch aktuelle Filme befassen sich mit parallelen Welten und ganz besonders mit den moralischen Implikationen, wenn Alltagsmenschen diese entdecken und zu ihrem Vorteil zu nutzen versuchen.
Einer dieser Filme aus der jüngeren Vergangenheit ist die kanadische Produktion Parallel von Isaac Ezban, welche aktuell bei Amazon Prime gestreamt werden kann. Achtung: Der Film ist nicht zu verwechseln mit Parallelwelten, der auf Netflix läuft und ein ähnliches Thema behandelt. Weitere Verwechslungsgefahr besteht zu der US-Produktion Parallels aus dem Jahr 2015, welche als Pilot für eine Fernsehserie konzipiert war und ebenfalls den Gedanken von parallelen Realitäten verhandelt. Die zugehörige TV-Serie wurde allerdings nie fertiggestellt.
Parallel wurde auf verschiedenen Festivals aufgeführt und konnte zumindest einige Nominierungen für Preise einsacken: Von der Hawaii Film Critics Society wurde er für den Preis als Bester Science-Fiction-Film nominiert. Außerdem erhielt er sowohl für den besten Sound als auch für die besten visuellen Effekte eine Nominierung für den Leo Award.
Natürlich ließ es sich der deutsche Verleih mal wieder nicht nehmen, dem Film einen deutschen Untertitel zu verpassen. Der offizielle Titel lautet Parallel – was würdest Du tun? Dadurch erhält der moralisch-ethische Aspekt des Films noch einmal zusätzlichen Nachdruck, wenn auch mit dem Holzhammer. Doch lohnt es sich überhaupt, sich auf den Mindfuck von Parallel einzlassen?
Alle Zeit der Welt – und alle Welten der Zeit
Die Freunde Noel (Martin Wallström), Devin (Aml Ameen), Leena (Georgia King) und Josh (Mark O’Brien) leben im gleichen Haus und betreiben von dort aus ein Startup, mit dem sie eine Handy-App konzipieren. Sie werden allerdings von einem Konkurrenten ausgebootet, weil dieser für sein Produkt eine schnellere Fertigstellung zusagen kann. Kurz darauf entdecken sie hinter einer Wand in ihrem Haus einen geheimnisvollen Spiegel. Dieser stellt sich als Tor in verschiedenste Parallelwelten hinaus, die der Realität der vier Freunde stark ähneln. Während einer Reise in die Parallelwelt vergeht dort wesentlich mehr Zeit als in der Realität. Dadurch können die Freunde ihre App noch vor der Konkurrenz fertigstellen und dadurch ein gutes Geschäft machen. Anschließend stehlen sie ihren Doppelgängern aus anderen Realitäten Geld, um es zu verprassen. Dadurch verlieren sich alle Beteiligten immer mehr in den anderen Welten, welche sie als „Alts“ bezeichnen.
Während ihrer Reisen stellen die Freunde fest, dass sich insbesondere im Kreativbereich Abweichungen zwischen den Realität und den Alts ergeben. So nutzt Leena die Chance, um mit Bildideen aus einer Parallelwelt eine erfolgreiche Malerin zu werden. Noel stiehlt auf seinen Reisen Produktwissen, um das Startup voranzubringen. Lediglich Devin steht dem Handeln seiner immer skrupelloseren Freunde kritisch gegenüber.
Erfolg oder Moral – Das Ende von Parallel
Josh nutzt die Reise in die Parallelwelt, um mit seiner Nachbarin Carmen zu schlafen. Er wird jedoch von ihrem Freund überrascht und niedergeschossen. Als Josh an seinen Verletzungen stirbt, beschließen die Freunde, einen anderen Josh aus einer Parallelwelt im Schlaf zu betäuben, dann zu entführen und den „alten“ Josh durch ihn zu ersetzen. Der alternative Josh ahnt nichts davon, dass er in einer anderen Realität gelandet ist und die Freunde verschaffen ihm einen gut dotierten Job, um ihm im Alltag nicht mehr zu begegnen.
Während Noel die Parallelwelten immer weiter ausnutzt, um Technologie-Ideen zu stehlen, packen nun auch Leena Gewissensbisse. Devin und sie schlafen miteinander, doch am nächsten Morgen ist Devin verschwunden. Noel sorgt sich nicht um ihn, aber Leena findet einen Devin aus einer Parallelwelt. Offensichtlich hat Noel den ursprünglichen Devin getötet und möchte ihn wie Josh durch einen Doppelgänger ersetzen.
Der neue Josh fühlt sich in seiner Welt zunehmend unwohl: Er sucht das Haus auf und findet Noel, wie er gerade durch den Spiegel in die Realität tritt. Es kommt zum Kampf und Josh verletzt Noel schwer. Dann tritt jedoch ein weiterer Noel aus dem Spiegel und tötet sowohl Josh als auch seine Kopie. Es wird klar, dass dies der echte Noel ist und er offenbar eine Version von sich davon überzeugen konnte, ihm zu helfen.
Kurz darauf kommt es zur Konfrontation zwischen Noel und Leena. Dabei eilt der alternative Devin Leena zu Hilfe. Es gelingt den beiden, Noel zu töten und den Spiegel zu zerstören. Anschließend verlassen sie die Stadt und möchten ein neues Leben anfangen. Als sie aber an einem Rastplatz Halt machen, wird Leena offenbar von einer alternativen Version ihrer selbst getötet und ersetzt.
(K)Ein Ersatz für eine kohärente Auflösung – Der Mindfuck von Parallel
Auch wenn Parallelwelten im Film immer wieder für Mindfuck-Elemente sorgen, macht es Parallel seinen Zuschauern vergleichsweise einfach. Parallelwelten und Figuren aus diesen Welten werden häufig durch ein verzerrtes Bild oder gleißende Lichteffekte deutlich markiert. Dadurch ist das Verhältnis zwischen einer Figur und ihrer Realitätsebene nahezu immer klar. Für eine kurzfristige Überraschung sorgt hier die Existenz zweier Noels, die nacheinander und scheinbar voneinander unabhängig aus dem Spiegel in die Realität treten. Hier erlaubt sich der Film scheinbar, seine eigenen Regeln zu brechen: Der Spiegel führt in eine zufällige Parallelwelt und dann wieder zurück in die eigene Welt. Dass ein alternativer Noel ohne erkennbare Hilfe in der Realität der Hauptfiguren landet, ist also eigentlich nicht möglich. Natürlich kann es sein, dass Noel seinem alternativen Doppelgänger geholfen hat, doch gezeigt wird dies nicht.
Wesentlich mehr Diskussionsstoff dürfte ohnehin bieten, dass Leena am Filmende durch eine Doppelgängerin ersetzt wird. Zudem legt der Film nahe, dass diese im Waschraum einer Raststätte aus einem Spiegel tritt. Dies sorgt für Verwirrung, da Leena und Devin den Spiegel, der bislang für den Realitätsübertritt genutzt wurde, zerstört haben. Es wird nicht klar, wie es die alternative Leena in die Realität geschafft hat und ob dies mit den anderen Ereignissen des Films zusammenhängt.
Mögliche Erklärung des Endes
Dennoch lässt sich über eine Erklärung für dieses Ende spekulieren:
- Der Film und mit ihm auch die Hauptfiguren gehen immer davon aus, dass sich die Hauptfiguren in einer privilegierten Realität befinden. Dies lässt sich zum Beispiel durch die Namensgebung „Alts“ für die parallelen Welten ablesen. Allerdings gibt es eigentlich keinen Grund für diese Annahme. Es ist wahrscheinlich, dass alle Welten grundsätzlich gleichberechtigt sind. Eine Privilegierung erfolgt immer aus dem Auge des Betrachters.
- Es ist nicht gesagt, dass nur der von den Freunden genutzte Spiegel als Tor zwischen den Welten dient. Möglicherweise haben andere Spiegel die gleiche Macht.
- Zudem hat Noel immer wieder unbekannte Technologien aus den Parallelwelten mitgebracht, die das bekannte technologische Niveau deutlich übertreffen. Es wäre also durchaus denkbar, dass in einer Parallelwelt das Springen mit beliebigen Spiegeln möglich ist.
- Was die Motivation der alternativen Leena angeht, muss bedacht werden, dass Noel und seine Freunde sehr rücksichtslos mit den alternativen Welten umgegangen sind: Sie haben ihren Doppelgängern Geld gestohlen, haben Joshs Leiche dort abgeladen und haben Menschen in ihre Welt entführt. Könnte die Alternative Leena unter den Eingriffen gelitten haben und möchte nun in eine Welt wechseln, in der für sie alles in Ordnung ist?
Natürlich sind all dies nur Gedankenspiele und Parallel bietet nichts davon deutlich als Erklärung an. Am wahrscheinlichsten ist daher gar nicht unbedingt eine logische, sondern eine generische Erklärung: Insbesondere in Horrorfilmen zeigt die letzte Szene oft, dass die Bedrohung allen Erwartungen zum Trotz nicht überstanden ist. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten hat der Killer bzw. das Monster überlebt und setzt zum nächsten Angriff an. Auch wenn Parallel kaum als Horrorfilm betrachtet werden kann, sind hier gewisse Anleihen spürbar. Es könnte den Machern also mehr um einen dramatischen Oberflächeneffekt zum Filmende als um eine logisch nachvollziehbare Wendung gegangen sein.
Übrigens: Die Einstufung des Films als Mindfuck für Fortgeschrittene begründet sich vor allem durch die letzte Szene. Das grundlegende Motiv von Parallel ist äußerst einsteigerfreundlich. Doch für Mindfuck-Neulinge ist es oft schwer zu akzeptieren, wenn ein Film in seinem Finale nicht explizit genug oder einfach insgesamt unklar ist.
Fazit
Parallel nimmt sich eine im Mindfuck-Film bereits bekannte Prämisse, hat ihr aber wenig hinzuzufügen. Ob Zeitreise oder Sprünge zwischen Parallelwelten: Wenn eine solche Technologie in die Hände von unbedarften Alltagsmenschen fällt, nutzen sie diese im Film immer zum eigenen Vorteil – zunächst nur für kleinere positive Veränderungen der eigenen Situation. Aber mit der Zeit gerät die Situation mehr und mehr außer Kontrolle und die Gruppe der Freunde zerfällt in die Unmoralischen und diejenigen mit Gewissensbissen. Die einzelnen Handlungselemente von Parallel kommen über die absoluten Standardsituationen des Genres nicht hinaus.
Was den Film sicherlich aufwertet, ist die Darstellerleistung von Martin Wallström als Noel. Zwar sind auch die anderen Darsteller unverbraucht und bringen ordentliche Leistungen. Doch Wallström verleiht seiner unmoralisch angelegten Rolle eine unterschwellige Bedrohlichkeit, welche für Parallel unverzichtbar ist.
Negativ muss leider angemerkt werden, dass Parallel erst relativ viel Zeit dafür aufwendet, die Funktionsweise und die Grenzen der Sprünge in parallele Welten aufzuzeigen – nur um sich anschließend in entscheidenden Momenten nicht nach den eigenen Regeln zu richten. Dies lässt den Zuschauer mit der Suche nach einer kohärenten Erklärung zurück, die am ehesten dramaturgischer Faulheit beziehungsweise einem platten Oberflächeneffekt geschuldet ist. Und für eine so uninspirierte Vorgehensweise sollte in einem guten Mindfuck-Film kein Platz sein.
Weiterführende Links
Parallel bei www.imdb.com
Parallel bei www.rottentomatoes.com
Filme wie Parallel
12 Monkeys (USA 1995, Terry Gilliam)
Coherence (USA/Großbritannien 2013, James Ward Byrkit)
Parallelwelten (Spanien 2018, Oriol Paulo)
Predestination (Australien 2014, The Spierig Brothers)
Primer (USA 2004, Shane Carruth)
Timecrimes (Spanien 2007, Nacho Vigalondo)
Triangle (Großbritannien/Australien 2009, Christopher Smith)
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Bildnachweis: Alle Bilder auf dieser Seite © capelight pictures. Die Verwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung.
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Ich danke Dir für einen neuen Filmtipp, den ich noch nicht kannte – muss Deiner Analyse aber zustimmen, das ist alles schon mehrfach bekannt, auch als hard sci-fi im deutlich besseren „Coherence“. Hier wurde das Verhalten der Charaktere ein ganzes Stück heruntergedummt, weil sonst überhaupt kein Plot zusammengekommen wäre. Und die Schlussszene im restroom ist einfach pro forma hintendran gesetzt, genauso abgeschaut bei vielen Vorbildern, und nicht in der eigenen Filmlogik erklärbar.
Ich bin Dir trotzdem immer wieder dankbar für neue Filmtitel. Ich selbst führe auf meinem Blog seit einigen Jahren eine Liste mit Mindfuck Movies, vielleicht könnte da ja noch etwas dabei sein, dass Du noch nicht kennst 🙂
https://doctorhilarius.blogspot.com/2019/01/what-the.html
Danke, Tobias! Ich habe gerade mal auf Deine Liste geschaut und gleich mehrere Filme gefunden, die ich noch nicht kenne. Hoffentlich finde ich bald mal die Zeit, reinzuschauen.